Martyrium und Widerstand. Zum Selbstverständnis evangelischer Märtyrer und ihrer kirchlichen Rezeption



1. Widerstand/Widerstehen als Schlüsselwort evangelischer Märtyrerrezeption?

Im Zugehen auf die Jahrtausendwende legte Papst Johannes-Paul II. 1994 der Katholischen Kirche und in ökumenischer Verbundenheit auch den anderen Kirchen die Aufgabe an das Herz, die Geschichten ihrer Märtyrer im 20. Jahrhundert zu erfassen und zu erforschen.:

In Folge dieser Initiative entstand im Raum der Evangelischen Kirche Deutschlands eine beachtliche Anzahl von kirchengeschichtlichen Arbeiten zu den evangelischen Märtyrern. Als ich diese Literatur sichtete, hielt ich folgenden Eindruck fest: „Das Wort ‚Widerstand‘ avancierte zum wichtigsten Wert und Leitbegriff für die Wahrnehmung des Martyriums in der evangelischen Kirche. Seit dem Ende der 60er Jahre trat noch einmal deutlicher eine politische Färbung dieses Begriffs in den Vordergrund.“ Dieser These möchte ich anhand der neueren Rezeptionsgeschichte evangelischer Märtyrer nachgehen. Das legt sich nahe, weil die Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 auf ihrer 33. Jahrestagung 2020 der Wirkungsgeschichte des Begriffs „Widerstand“ bis hinein in die Politik der Gegenwart auslotete. Mein Anliegen ist es, anhand von exemplarischen Tiefenbohrungen herauszuarbeiten, welches Gewicht der Begriff des Widerstandes für eine solche Theologie heute hat und wie im Vergleich dazu wichtige Frauen und Männer das Märtyrergeschick deuteten, das ihnen widerfuhr. Wie wurde Widerstand zum Leitbegriff evangelischer Märtyrerrezeption? Und welche Folgerungen sind daraus für eine evangelische Martyrologie zu ziehen?

2. Die Sammlung der Geschichten von evangelischen Glaubenszeugen nach der Jahrtausendwende.

2.1. Folgende wichtige Veröffentlichungen wären zu nennen: Als ökumenisches Projekt erschien im Milleniumsjahr ein Band mit 26 Märtyrerbiographien, den der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam herausgaben. Märtyrer gelten den Herausgebern als „‘Zeugen einer besseren Welt‘, die ihrem Gott, ihrem Glauben und sich selbst auch treu blieben als es etwas kostete.“ Unter diese Zeugen seien auch Menschen zu zählen, die sich „für das Recht und die Einhaltung elementarer Menschenrechte“ einsetzten, die „sich der Gewaltherrschaft entgegenstellten, um eine neue politische Ordnung vorzubereiten und sich dabei als Christen verstanden.“

2.2 Als nächstes sind auf die Arbeiten von Björn Mensing, Pfarrer und Historiker an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau zu verweisen. Er titelte im Deutschen Pfarrerblatt „Die Blutzeugen kommen wieder. Evangelisches Märtyrergedenken in Deutschland.“ Das evangelische Profil des Märtyrerbegriffs machte er an dem Beispiel von Oskar Brüsewitz am „unerschütterlichen Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes“ fest. 2002 gab Mensing zusammen mit Bischof Heinrich Rathke eine Sammlung von Märtyrergeschichten des 20. Jahrhunderts unter dem programmatischen Titel „Widerstehen. Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer“ heraus, die er ein Jahr später in einer erweiterten Fassung wieder auflegte. Die Einführung und Beiträge umfassen den Bereich des deutschen Protestantismus im 16.-19. Jahrhunderts, die Baltischen Märtyrer und Konfessoren, evang. Todesopfer des Stalinismus im Bereich der ehem. Sowjetunion, Todesopfer des Nationalsozialismus und Todesopfer des Stalinismus in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR.



Als 2006 das große evangelische Märtyrergedenkbuch „Ihr Ende schaut an …“ erscheint , wurde dem politische Widerstand des 20. Juli 1944 ein eigenes Kapitel gewidmet. Christoph Strohm lotet „die Bedeutung von Kirche, Religion und christlichen Glauben im Umkreis der Attentäter des 20. Juli“ aus. An diesem Beitrag von Strohm lässt sich zeigen, dass er „Widerstand“, speziell den politischen Widerstand gegenüber einem nicht politisch wirksamen Widerstand profiliert, der sich lediglich auf „die rechte Lehre und das unversehrte kirchliche Leben“ beschränkte. Spätestens nach der Wiedervereinigung waren die Attentäter um Stauffenberg zu Identifikationsfiguren geworden. Der Anteil der christlichen Motivation am Widerstand gegen Hitler wird zum einigenden Merkmal evangelischer Erinnerungskultur.

Wie stark „Widerstand“ als Widerstand gegen die politischen Verhältnisse des NS und die Missstände bis heute verstanden wird und wie wesentlich das Thema für die kirchliche Zeitgeschichte ist, das belegt in jüngster Zeit die Internet-Ausstellung „Evangelischer Widerstand“, die die Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte unter Prof. Dr. Claudia Lepp ins Werk gesetzt hat. Die Ausstellung nimmt in vieler Hinsicht über die Kirchengeschichtsforschung hinaus die Fragenkomplexe der allgemeinen Widerstandsforschung auf:

„Welche Rolle spielte in der NS-Zeit das widerständige Verhalten im (Gemeinde-)Alltag und wer leistete christlich motivierte Hilfe für Verfolgte? Welche Bedeutung kommt den bislang weniger beachteten Gruppen zu, wie etwa den religiösen Sozialisten, den liberalen Christen …. Wie lässt sich das individuelle Glaubensprofil einzelner Widerstandskämpfer einschließlich seiner Wandlungen herausarbeiten und zu ihrer ethisch-politischen Urteilsbildung in Bezug setzen? Wie lässt sich der christliche Widerstand fern von Formen einer Monumentalisierung historisch darstellen und beurteilen?“ Denn: „Nicht jeder Widerstand von Christen ist auch christlich motivierter Widerstand.“ An der Ausstellung „Evangelischer Widerstand“ lässt sich die hier postulierte Wertigkeit des Widerstandsbegriff aufzeigen. Die Ausstellung will Geschichte aktualisieren, wenigstens signalisieren, dass die evangelische Kirche aus dieser Geschichte gelernt hat. Freilich muss sie dazu ein eigenes, evangelisches, wenigstens christliches Profil dieses Widerstandes formulieren.

Noch einen Schritt weiter in die allgemeine Widerstandsforschung geht der 29. Tagungsband der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944. Unter dem Titel „Vom 20. Juli 1944 zum Hambacher Forst“ untersucht er den Begriff des Widerstandes für das Dritte Reich, für politische Bewegungen wie die 68er, die Staatsdoktrin der DDR bis hin zu gegenwärtigen politischen Widerstandsformen von Rechts und von Links, den Umweltprotesten der Letzten Generation, im Hambacher Forst oder bei politischen Bewegungen wie Pegida oder den Querdenkern. Sie alle reklamieren für sich das Qualitätswort „Widerstand“, das ihre Aktionen und Proteste legitimieren soll. Hier hat sich der Widerstandsbegriff weitgehendst vom christlichen Glauben gelöst.



3. Andere Martyrien - wo der Widerstandsbegriff nicht greift

Zu den gesicherten Ergebnissen der kirchlichen Widerstandsforschung gehört, dass viele evangelischen Christen der Machtergreifung Hitlers 1933 zustimmten. Erst in den Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen um eine zu schaffende Reichskirche, als die kirchlichen Bekenntnisse, Organisation und Strukturen bedroht waren, regte sich in den großen Kirchen Widerstand, um den eigenen Bestand zu schützen. Für diese als unpolitisch wahrgenommene Selbstbeschränkung musste sich die evangelische Kirche später rechtfertigen, galt er doch als Widerstand zweiter Klasse. Daneben dürfen aber die Gruppen und Einzelpersonen nicht vergessen werden, die keinen politischen Widerstand leisteten und trotzdem Diskriminierung, Strafen und Martyrien in Kauf nahmen: Kriegsdienstverweigerer aus Gewissens- und Glaubensgründen, die u.a. wegen Wehrkraftzersetzung hingerichtet wurden. Auch sie leisteten keinen politischen Widerstand. Ähnliches wird man von den Märtyrern der ethnischen Deutschen in der Sowjetunion, den Opfern des Stalinismus in der SBZ und später den Opfern in der DDR sagen müssen. Die Zahlen machen betroffen. Die Ev.-Luth. Kirche in der Sowjetunion verlor bis 1937 alle 240 Pastoren. 300000 Gemeindeglieder kamen allein zwischen 1945-1949 um, wurden umgebracht oder erschossen. Diese Gruppen leisteten keinen Widerstand, sie verbindet als gemeinsamer Nenner, dass sie sich dem Totalitätsanspruch des Staates, seiner Ideologie und seinen Schergen aus Glaubensgründen verweigerten und dafür mit dem eigenen Leben bezahlen mussten. Grund und Ursache ihres Martyriums ist ihr Gehorsam gegen das erste Gebot.



4. Zum Selbstverständnis evangelischer Märtyrer. Exemplarische Zeugnisse

Im Sammelband „Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933-1945“ lässt sich aufgrund der schriftlichen Zeugnisse wenigstens exemplarisch aufzeigen, wie wichtige Exponenten der Opposition gegen das Dritte Reich ihre Motivation zum Widerstand, bzw. ihr Handeln und ihren bevorstehenden Tod einordneten.

Paul Schneider (+18.07.1939): „Wie sind wir heute sonderlich gerufen, für die Ausbreitung des Reiches Gottes dienstbereit zu sein, unser Gut und unsere Existenz, unsere Fürbitte und unser Bekennen und Zeugen, unsern Ruhm und unsern guten Namen, uns selber leidend, und wenn es sein muss, sterbend [dafür] einzusetzen.“ Schneider bestand als ordinierter Pfarrer darauf, dass in der Kirche die christliche Lehre und Ordnung allein das Handeln bestimmen müsse. Diese öffentlich dezidiert geäußerte Haltung brachte ihn in die Opposition zum Dritten Reich, dafür wurde er mehrfach verhaftet und des Landes verwiesen. Ins KZ wurde er eingeliefert, als er in seinen Gemeinden gegen diesen Landesverweis Gottesdienste hielt. Schneider tat das, weil er der Auffassung war, dass man nach Apg 5,29 Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Paul Schneider wurde umgebracht, weil er seinem Hirtendienst als Pfarrer treu blieb.

Helmut James von Moltke (+23.02.1945) war zusammen mit Peter York von Wartenburg der Kopf des Kreisauer Kreise. Sein Verbrechen bestand in den Augen der Nationalsozialisten darin, mit anderen einen Neuanfang Deutschlands im umfassenden Sinn auf der Basis eines christlichen Weltbildes geplant zu haben. Als Schlüsselmoment seiner Motivation gilt ihm in der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof wo Freisler den fundamentalen Gegensatz zwischen der Weltanschauung des Nationalsozialismus und des Christentums benennt: „Herr Graf, eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam und nur dies eine: wir fordern den ganzen Menschen!“ Moltke nimmt das als „eine Art Dialog [wahr] … in dem wir uns durch und durch erkannten.“ Seine Frau konstatiert, wofür er sein Leben lässt: „Du weißt wofür; Du stirbst im Glauben.“

Günter Brakelmann weist für etliche Offiziere im Umfeld des 20. Juli 1944 nach, dass sie „als gläubige Christen … bald mit der nationalsozialistischen Weltanschauung in Konflikt“ gerieten. Sie rechtfertigten ihre Gegnerschaft mit dem Verweis auf das Gewissen, den Einsatz für das von den Nationalsozialisten ausgehebelte Recht, mit dem Sinn für Humanität, mit der Verantwortung für Deutschland und seine Zukunft und letztlich der Verantwortung vor der Geschichte und vor Gott. Diese Erkenntnis zuletzt vor einem höheren Gericht zu stehen band die Offiziere stärker als der Eid auf den Führer. Peter Yorck von Wartenburg und Henning von Tresckow deuteten ihr Sterben als Sühnopfer für das Volk.

Dietrich Bonhoeffer (+09.04.1945) ist mit seinem unvollendeten theologischen Werk deswegen so wichtig, weil er von Beginn des dritten Reichs an in Gegnerschaft zu diesem stand und weil er seine Haltung und sein Engagement im Widerstand als Theologe reflektierte bzw. dichterisch verarbeitete. Am 21.02.1944 schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge: „Ich habe mir hier oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwenigen Widerstand gegen das ‚Schicksal‘ und der ebenso notwendigen Ergebung liegt.“ Bonhoeffer warnt davor, die eigene Tat und Verantwortung vor Widerstand gegen und Ergebung in das Schicksal zu schnell zu deuten. Er folgert: „die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung sind also prinzipiell nicht zu Bestimmen; aber es muss beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden.“ Diese Passage gab dem Band „Widerstand und Ergebung“ offensichtlich seinen Titel. Wenn man die wenigen anderen Belege im achten Band der Bonhoeffer-Werke ansieht, bezieht sich der Terminus „Widerstand“ nicht auf politisches Handeln sondern auf die eigene innere Haltung, auf die Kraft zum Widerstehen , die sich in verantwortlichen Taten äußert. In seinem Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“ schreibt Bonhoeffer an der Jahreswende 1942/43: „Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist.“ In Bonhoeffers Ethik zählt die Tat, die auf Gottes Ruf antwortet, aus ihr ergibt sich auch die Ergebung, das Leiden und der Tod. Darauf verweist Bonhoeffers Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ zu denen neben der Zucht und der Tat auch das Leiden und der Tod gehört . Bonhoeffer sieht sich und seinen Weg als einen „Grenzfall“. Widerstand ist bei ihm nicht von dem der Ergebung zu trennen.

5. Die evangelische Kirche und die Bewertung des Widerstandes ab 1933

Wie oben beschrieben gilt der ethisch-politische Widerstandsbegriff heute als Signum evangelischer Erinnerungskultur. Die evangelischen Männer und Frauen, die ihren politischen Widerstand gegen das Dritte Reich mit dem Leben bezahlten, stehen im Vordergrund des kirchlichen Gedächtnisses. Dabei mussten die wenigen Christen, die aktiven politischen Widerstand leisteten ohne Deckung der der Bekennenden Kirche handeln. Erst als mit dem Kriegsende kam auch die Frage auf, wer außer den anfangs benannten zehn „Blutzeugen der Evangelischen Kirche in Deutschland“ noch zu den Märtyrern zu rechnen sei. Dietrich Bonhoeffers Sterben wird dabei zunächst bis in die 60er Jahre weitgehend unter dem alten klassischen Märtyrerbegriff rezipiert wurde, weil er sich in der BK und der Ökumene eingesetzt hatte.

Zwei Bücher trugen wesentlich dazu bei, dass auch evangelische Christen des politischen Widerstandes nach und nach als Märtyrer rezipiert wurden: Die Ausgabe der Gefängnisbriefe Bonhoeffers unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ und die Sammlung „Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes" 1954. Beide Bände erreichten hohe Auflagenzahlen und bestimmten lange das kollektive Denken der evangelische Christen. Im Vorwort und im Klappentext von „Heimgesucht bei Nacht“ schreiben die Herausgeber defensiv: „Diese Sammlung ist kein politisches Buch … es enthält keine kritische Auseinandersetzung mit dem totalitären Staatssystem und keine Aussagen über Motive, Zeile und Methoden des Widerstandes.“ Jedoch: das Stichwort „Widerstand“ ist mit diesen Sammlungen gesetzt. Die Autorität des Todes Bonhoeffers und anderer evangelischer Christen im Widerstand tun ihre Wirkung, bis Jörg Erb (1967), Eberhard Bethge (1968/69) und Werner Oehme (1979) mit einem erweiterten Begriff des Märtyrertums, die politisch-ethische Verständnis dieser Männer und Frauen auch theologisch einbinden.

Bethge und andere Historiker entwickelten verschiedene Stufenmodelle des Widerstandes, um die Intensität der Opposition unterscheiden zu können. Immer wieder tritt in der Forschungsgeschichte des Widerstandes das Bemühen auf, religiöse, politische oder theologisch-ethische Motivation der Akteure zu unterscheiden. Die Machthaber des NS trafen solche Unterscheidungen nicht. Aus ihrer Sicht wurde die Staatsideologie, ihre Macht auf jeden Fall politisch in Frage gestellt. Und das darf in totalitären Regimes nicht geschehen. Von daher rührte ihr Hass auf einen Glauben, der Gott mehr gehorcht als den Menschen (Apg 5,29).

5. Ertrag und Folgerungen

An wesentlichen Veröffentlichungen lässt sich zeigen, dass die Rezeption evangelischer Martyrien seit der Jahrtausendwende unter dem Leitwort des „Widerstandes“ geschah. Im Hintergrund dieser Fokussierung stand schon lange davor die Frage, als was der politische Widerstand evangelischer Christinnen und Christen und ihr Tod zu werten ist. Kurz nach dem Ende des dritten Reichs zählten die evangelischen Opfer des politischen Widerstandes nicht unter die Blutzeugen. Nach der Jahrtausendwende sind gerade diese Martyrien am besten erforscht, diese Namen im kirchlichen Bewusstsein vorrangig präsent, ihr Martyrium als ethisch hochwertiger angesehen, weil sie aktiv an der Beseitigung eines totalitären Unrechtsregimes mitwirkten.

Mit der Zeit wanderte der Begriff des Widerstandes aber aus dem historischen Kontext des Dritten Reiches aus. Er gilt heute für alle möglichen Formen unbotmäßigen Verhaltens gegenüber der Staatsgewalt, auch wenn diese heute demokratisch legitimiert ist. Widerstand wird von linken und rechten Bewegungen auch von Extremisten in Anspruch genommen. Widerstand gegen das Corona-Regime, gegen Klima-Leugner und Kernkraftwerke, gegen vorgebliche und echte Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Der Begriff des Widerstandes leidet gegenwärtig zunehmend an Überdehnung und Entschränkung. Kirchliche Widerstandsforschung und profanhistorische Widerstandsforschung ringen um ihre je eigenen Konturen.

Heute wird die Frage nach einer eigenen evangelischen Erinnerungskultur und nach Kriterien für ein evangelisches Märtyrertum wieder verstärkt gestellt. Dazu habe ich an anderer Stelle auf die grundlegenden altkirchlichen Kriterien verwiesen. Gleichwohl halte ich etwas anderes für den evangelischen Umgang mit den Märtyrern primär: Vor der Frage nach den theologischen Kriterien für ein evangelisches Märtyrertum war die Erfahrung, war das Widerfahrnis des Martyriums. Am Tod Paul Schneiders entdeckte die Bekennende Kirche 1939 das Martyrium als Charisma. Auch Dietrich Bonhoeffer sagte: „Den Namen dürft ihr nicht vergessen, Paul Schneider ist unser erster Märtyrer.“ Das hieß für die evangelischen Kirche, auch wir sind Kirche. Evangelische Christen haben ihr Zeugnis von Christus mit ihrem Sterben beglaubigt. Kreuz und Martyrium gehören für die lutherische Kirche zu den notae ecclesiae.

Zur Phänomenologie des Martyriums gehört seit der frühen Kirche die Gemeinde, die vor Gott ihrer Märtyrer gedenkt. „Aber eine Gemeinde, eine Kirche, kann ihre Märtyrer nur gedenken, wenn sie um sie weiß und nach Möglichkeit ihre Namen kennt.“ Das heißt doch: vor einer evangelischen „Erinnerungskultur“ steht die evangelische Gemeinde, die ihrer Märtyrer gedenkt. Weil die Praxis dieses Gedenkens so schwach ausgeprägt ist, ist es um eine evangelische Erinnerungskultur vermutlich so schlecht bestellt.

Kurz gefasst: Mit dem Wort „Widerstand“ verbindet sich heute vor allem ein ethisch-politischer Märtyrerbegriff. Seit den 60er Jahren gewinnt dieser Märtyrerbegriff ein besonderes Gewicht in der kirchlichen Erinnerungskultur der evang. Kirche. Heute scheint mir dieser Begriff des Widerstandes wegen seiner Überdehnung weniger geeignet zu sein, das Phänomen des Martyriums unter den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts zu fassen.